Die Illusion vom Nicht-Lehrerzentrierten Unterricht (IMHO)

In der Zeit meines Studiums und Referendariats wurde uns es wie Gebetsmühlen vorgetragen: lehrerzentrierter Unterricht ist schlecht. Dabei wurde nicht geklärt (Definitionen sind in der Pädagogik eher unbeliebt), was lehrerzentriert eigentlich ist. Es wurde nur weiter formuliert: Um lehrerzentrierten Unterricht zu vermeiden, ist ein schülerorientierter Unterricht umzusetzen. Die Definition des Begriffes Schülerorientierung fehlte ebenfalls. Für beide Begriffe lässt sich im besten Falle eine grobe Definition geben: Lehrerzentrierung bedeutet, dass der Fokus des Unterrichtsgeschehen bei der Lehrkraft liegt, wobei in der Schülerorientierung der Blick sich auf die Aktivitäten der Schülerinnen und Schüler richtet.
Gerade wegen dieser schwammigen allgemeinen Definition bleibt es für mich noch heute interessant, wie man eine solche Gleichung aufstellen kann, ohne die genaue Definition zu kennen. Ist die Logik: Lehrer ist Gegenteil von Schüler, daher lehrerzentriert minus schülerorientiert gleich guter Unterricht? Wie definieren sich Lehrerzentrierung und Schülerorientierung? Schließen sich beide gegenseitig aus, weil es unvereinbare Gegensätze darstellen?
Diese Fragen begleiten mich im Wesentlichen weiterhin, denn ich möchte einen guten Unterricht geben (wieder so eine fehlende Definition). Aus dem Grund könnte dieser Artikel noch den Untertitel tragen: Der Versuch einer Definition von lehrerzentriertem Unterricht.
Ich entschied mich für einen Titel, ohne Zusätze. Den Begriff "Illusion" wählte ich, weil ich denke, dass sich aufgrund der fehlenden Definition manche Lehrkräfte und Pädagogen im Allgemeinen einer Illusion hingeben, wie ein nicht-lehrerzentrierter Unterricht umzusetzen ist.
Doch ein Schritt nach dem anderen. Zunächst muss geklärt sein, was unter einem lehrerzentriertem Unterricht zu verstehen ist.
Um den Weg etwas spannender zu gestalten, stelle ich zunächst meine These auf:
Jeder Unterricht ist lehrerzentriert.

Dieser These schließt sich meine nächste Feststellung an:

Schülerorientierung und Lehrerzentrierung sind Elemente desselben guten Unterrichtes

Zunächst zwei einfache Feststellungen


Die Planung und die Durchführung jedes (auch schülerorientierten) Unterrichts nimmt die Lehrkraft vor. Somit wäre in dieser Hinsicht eine gewisse Fokussierung auf den Lehrer gegeben, denn dieser gibt durch seine Vorbereitung die Art des Unterrichtes vor.
Des Weiteren steht am Ende einer Unterrichtseinheit eine Bewertung der Schülerschaft an, die durch die Lehrkraft erfolgt. Die Schülerinnen und Schüler wissen, dass sie in der Schule sind, benotet werden und Leistung gefordert ist, unabhängig von der Art des Unterrichtes. In diesem Sinne findet eine Hinwendung der Schülerinnen und Schüler auf die Lehrkraft statt. Sie versuchen ihre Leistungen an den Bedingungen, die die Lehrkraft vorgibt, anzupassen. Das Unterrichtsgeschehen zentriert sich somit auf die Lehrkraft.

Nun eine etwas detaillierte Darlegung


Gerne wird Schülerorientierung als gewährleistet angesehen, wenn die Schülerinnen und Schüler in Gruppenarbeit Aufgabenstellungen eigenständig formulieren und ebenfalls selbstständig lösen. Die Lehrkraft tritt (scheinbar) zur Beratung in den Hintergrund. Aus dem Grund ist die landläufige pädagogische Meinung, dass der Fokus nicht auf der Lehrkraft liegt, sondern sich auf die Schülerschaft richtet. Daher zieht man den Schluss, dass das Unterrichtsgeschehen nicht lehrerzentriert ist.
Ich denke, dass hierbei die Rolle der Lehrkraft unterschätzt wird. Nicht nur dass Vorarbeit (Übung zur Selbstständigkeit, Vorbereitung der Arbeitsblätter, ggf. Vorauswahl der Quellen, Gruppenauswahl usw.) durch die Lehrkraft erfolgte, sondern die Beratung durch die Lehrkraft beeinflusst das Unterrichtsgeschehen wesentlich. Die gegebenen Antworten oder Hilfestellungen der Lehrkraft tragen die Schülerinnen und Schüler in ihren Ergebnissen weiter. Somit bedeutet eine Schülerorientierung nicht, dass die Lehrerin oder der Lehrer die eigene Position aufgibt und zurückgedrängt wird. Vielmehr erhält die Person „Lehrkraft“ eine andere Bedeutung, die tiefer und weitreichender im Vergleich zum „klassischen“ Unterricht ausfallen könnte. Dies gilt ebenso für andere didaktische Umsetzungen, wie z.B. Lernen durch lehren oder der Handlungsorientierung.
Im Zusammenhang mit der Vorbereitung eines Unterrichtes steht ein weiterer Gedankenspiel: Wenn ich Schülerinnen und Schüler zur gewünschten didaktischen Umsetzung „schulen“ muss (u.a. eigenständiges Lernen), inwiefern zentrieren die Pädagogin und der Pädagoge die Zöglinge im Vorfeld auf die eigene Person bzw. auf die priorisierte Unterrichtsform.Dass eine solche Vorarbeit notwendig ist, um überhaupt sinnvolle und effektive Gruppenarbeit durchführen zu können, ist evident. Nur zeigen manche Untersuchungen, dass genau diese Herangehensweise nicht zwangsläufig schülerorientiert ist. Beispielsweise gibt es verschiedene Untersuchungen zum „Kooperativen Lernen“ (eine Umsetzung die in Zusammenhang mit Schülerorientierung genannt wird), in der festgestellt wurde, dass es Schülerinnen und Schüler gibt, bei denen sich die Leistung bei der Umsetzung von „Kooperativen Lernen“ verschlechtert hat, obwohl die Lerngruppe „erfolgreich“ in diese Lernart eingearbeitet wurden. Dies lässt somit die Frage zu: Wenn man Schülerinnen und Schüler auf eine Methode/Didaktik schulen muss, inwiefern ist dies „schülerorientiert“? (Vgl. Wellenreuther, Martin: Lehren und Lernen - aber wie? Empirisch-experimentelle Forschungen zum Lehren und Lernen im Unterricht. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren).

Eine vorläufige Definition


Somit kann man durchaus behaupten, dass jeder Unterricht lehrerzentriert ist. Alleine schon aus dem Grund, dass die Lehrkraft im Unterricht anwesend ist. Selbst wenn die Lehrperson „nichts“ macht, bestimmt sie dadurch das Geschehen im Unterricht. Somit ist es grundsätzlich unmöglich einen nicht-lehrerzentrierten Unterricht durchzuführen.
In diesem Zusammenhang könnte eine Definition lautet: Lehrerzentrierung bedeutet, dass der Lehrer das Zentrum eines Unterrichtes darstellt, wobei Zentrum meint, einen gleichen Abstand zu allen Punkten. Im weitesten Sinne ist damit „professionelle Distanz“ gemeint. Zentrum heißt damit nicht unbedingt „Mittelpunkt“, die „Position“ der Lehrkraft kann auch „außerhalb“ des „Lernkreises“ oder „Lerndreiecks“ liegen, wenn beispielsweise sich die Positionen der Schülerinnen und Schüler (Gruppenarbeit, Projekte) ändern und die Lehrkraft „nur“ die Beratung übernimmt. Dennoch bleibt die Lehrkraft trotz aller Distanz eine bestimmende Größe, eine Konstante – das Zentrum.

Und die Schülerorientierung (zweite These)?


Ein Zentrum definiert sich durch die Punkte, die es sozusagen zum Zentrum machen. In dieser Betrachtung ist eine Lehrkraft erst ein solcher, wenn Schülerinnen und Schüler anwesend sind. Aus Sicht der Schülerinnen und Schüler wird ein Unterricht als solcher wahrgenommen, wenn eine Lehrkraft anwesend ist. Sie haben einen Punkt, an dem sie sich ausrichten. Daraus ergibt sich folgende Überlegung: Lehrende stehen in Abhängigkeit zu den Lernenden und umgekehrt. Somit lässt sich ableiten, dass eine Schülerorientierung nur gegeben ist, wenn eine Lehrerzentrierung vorliegt. Umgekehrt besteht nur eine Lehrerzentrierung, wenn eine Orientierung zu den Schülerinnen und Schülern gegeben ist. Diese etwas „wirre“ Formulierung möchte ich nun etwas entwirren.
Ich setze voraus bzw. gehe davon aus, dass jede Lehrerin und jeder Lehrer einen guten Unterricht umsetzen möchte, wobei „gut“ im Auge des Betrachters liegt.
Als eine Voraussetzung für guten Unterricht wird häufig „Schülerorientierung“ genannt. Als eine Definition für Schülerorientierung kann folgendes Zitat von William Stern aus dem Jahre 1919 angeführt werden, wobei zu der Zeit dieser Begriff unbekannt war:
„Pädagogik darf nicht nur geschehen lassen und die natürliche Entwicklung unbeeinflußt sich auswirken lassen - nichts wäre unnatürlicher als solche ’Rückkehr zur Natur’. Aber sie soll, indem sie spendet und fördert, erzieht und belehrt, stets sich dessen bewußt sein, daß sie nicht gegen die Schüler, sondern mit ihnen und mit den in ihnen ruhenden Kräften arbeiten soll, daß diese spontanen Strebungen und Anlagen nur darnach dürsten, verwertet und veredelt und damit selbst zu den stärksten Hilfsmitteln des pädagogischen Erfolgs erhoben zu werden.“ (Stern, William: Psychologie und Schule. Zeitschrift für pädagogische Psychologie und Jugendkunde, 1919, Nr. 20, 148)
Schülerorientierung ist demnach nicht das bedingungslose Erfüllen von Schülerwünschen oder das Lernen in der Gruppe, sondern vielmehr das „hinein horchen“ in die entsprechende Lerngruppe durch den Pädagogen: wie lernt diese Gruppe am besten, was fehlt dieser Lerngruppe zum Lernen, welche Fähigkeiten (Kompetenzen) bringen die Schülerinnen und Schüler mit, was ist zu fördern? Dies heißt, dass die Lehrerin und der Lehrer sich zum Schüler hin orientiert und prüfen, wie entsprechend der Unterricht auszurichten ist.
Und bei dieser Ausrichtung wird meines Erachtens ein gedanklicher Fehler vorgenommen: Je nach Trend und Windrichtung innerhalb der Pädagogik werden immer andere Didaktiken und Methoden gepriesen, die hierbei die ultimativen Werkzeuge darstellen sollen. Es wird nur dieser gerade „modernen“ Didaktik das Potenzial zugesprochen, Schülerorientierung zu gewährleisten. Meiner Meinung nach, gibt es „die“ Didaktik oder „die“ Methodik zur Schülerorientierung nicht. Selbst ein Frontalunterricht (buh, ich habe dieses böse Wort gesagt, da es das Synonym für Lehrerzentrierung ist) kann Schülerorientierung sein, wenn es die Didaktik ist, die beispielsweise die beiden Fragen für die Lerngruppe beantwortet. (Vgl. Meyer, Hilbert, Was ist guter Unterricht?, Cornelsen Verlag Scriptor, Berlin, 2005) Demnach empfinden die meisten Schülerinnen und Schüler einen Unterricht für sich als wertvoll und Sinn gebend an, wenn sie diesen mitgestalten können und dieser auf sie zu kommt und entsprechend unterstützt. Und dies kann auch Frontalunterricht sein, wenn es die Art und Weise ist, wonach Schülerinnen und Schüler nach ihrem Empfinden am besten lernen. Und in dieser Hinsicht kann ein Frontalunterricht auch Schülerorientiert sein.
Aus dieser Überlegung heraus kann erklärt werden, warum beispielsweise „Kooperatives Lernen“ nicht bei allen Schülerinnen und Schülern entsprechende positive Effekte zeigt.
Betrachtet man die Definition von Lehrerzentrierung und die Intentionen der Schülerorientierung, dann zeichnet sich nicht das Bild einer Gegensätzlichkeit ab. Vielmehr scheinen diese wichtigen Elemente zur Beschreibung eines (guten) Unterrichts zu sein.

Fazit


Nach den obigen Ausführungen ist Lehrerzentrierung immer im Unterricht gegeben und Schülerorientierung kein Gegensatz dazu. Beide Aspekte sind Elemente eines Unterrichtes, die sich nicht „im Wege“ stehen, sondern notwendig sind und sich gegebenenfalls ergänzen. Im Prinzip definiert sich ein Unterricht auch erst durch die Anwesenheit von Lehrenden und Lernenden, wobei die Schülerin und der Schüler durchaus die Rolle des Lehrenden einnehmen kann. Dennoch bedarf es anderer Lernenden, die dem Lehrenden gegenüber stehen.

Auch wenn ich nun viel geschrieben habe (und manches etwas scheinbar zusammenhanglos ist), ist die grundlegende Intention dieses Artikels, die genauere Formulierung der Anfangs gestellten Fragen und der Versuch eine Antwort zu finden.
Für mich persönlich ist die Beantwortung von Bedeutung, da ich im Sinne der Schülerorientierung bestrebt bin in meinen Fächern Mathematik (Stichwort: Differenzierung) und Katholische Religion (Stichwort: Korrelationsdidaktik) guten Unterricht zu gewährleisten und umzusetzen

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